Noch weit mehr als dies für die meisten Kulturen der Fall ist, prägt unser Bild von China vor allem Vorurteile ”“ noch dazu meist negativ behaftete. Wie sollte dies auch anders sein? Die wenigsten Deutschen hat es schon einmal in das Reich der Mitte verschlagen, denn nicht nur die schier physische Distanz, sondern auch die gewaltigen kulturellen Unterschiede umnebeln auch noch im 21. Jahrhundert unsere Vorstellung von einer Kultur, wie sie fremder kaum sein könnte.
Doch können wir uns es inmitten eines reifen und aufgeklärten Europas des 21. Jahrhunderts wirklich leisten die Augen vor dem großen Drachen zu verschließen? Auf den ersten Blick scheint es so, denn außer Chinarestaurants, hinter denen sich hie und da auch oft ein vietnamesischer Koch versteckt (mal ehrlich: wem fällt das schon auf?), dem Brauch des Feuerwerks und dem bei chinesischem Essen obligatorischen Glückskeks hat die chinesische Kultur bisher kaum Spuren in unserer Gesellschaft hinterlassen.
Jenseits von Stereotypen
Um gleich aufzuräumen: Frühlingsrollen habe ich in ganz China nur ein einziges Mal auf einer Speisekarte gesehen: In einem renommierten Pekinger Restaurant bot die Speisekarte eine grotesk wirkende letzte Seite mit dem Titel Chinese food for western guests.
Glückskekse wurden in Kalifornien erfunden und sind in China gänzlich unbekannt.
Und während italienische Nudeln durchaus noch in Italien produziert werden, so las ich mit Erstaunen auf einer Packung roter Knallkörper die mir zum chinesischen Neujahrsfest von Kindern auf der Straße angeboten wurde China-Böller ”“ BAM geprüft! Und ach ja: Glückskekse wurden in Kalifornien erfunden und sind in China gänzlich unbekannt.
Das Fernsehen ist voll von China-Dokus, chinesische Studenten stellen in Deutschland den größten Teil der ausländischen Studenten und kaum ein mittelständisches Industrieunternehmen kann es sich noch leisten sich nicht mit China zu beschäftigen. Doch was wissen wir wirklich über das Reich der Mitte und vor allem der Lebensart der Menschen? Bei allem Mahnen und Meckern über Menschenrechte und die Umweltfeindlichkeit der Chinesen scheint es kaum möglich, dass wir beim genaueren Hinsehen auch noch etwas lernen können. Doch genau davon bin ich überzeugt.
Nur ein bisschen mehr kollektiv
Unsere westliche Gesellschaft ist vor allem vom Streben nach Individualität geprägt. Jeder möchte unique sein. Das Kleine kommt vor dem Großen. Die Hysterie des einzelnen, der von einer der Allgemeinheit helfenden Entscheidung berührt wird, ob politisch oder wirtschaftlich, erklingt bald jeden Tag in der Presse. I sure ain”™t no socialist… aber nur ein Hauch von chinesischem Utilitarismus täte unserer Gesellschaft manchmal ganz gut.
Das Denken von Groß nach Klein ist in der chinesischen Gesellschaft tief verankert ”“ lange bevor man überhaupt das Wort Kommunismus kannte. Das lässt sich schon an der Art ablesen, wie man in Asien das Datum schreibt: Jahr ”“ Monat ”“ Tag. Auch eine Adresse fängt nicht mit der Straße an, sondern mit China ”“ Provinz ”“ usw… Â Ein gewisses Im Auge behalten des Greater Picture konkurriert doch nicht mit persönlicher Entfaltung. In Norddeutschland gehen wir oft zum Lachen in den Keller, zeigen uns aber gerne missmutig und erschöpft vom Übel der Welt. Vice versa in China: Öffentlich ausgetragene Lethargie und Pessimismus ist mir nie, Herzlichkeit und Lebenseifer dafür umso öfter begegnet.
Kinder: Sinn des Lebens?… !
Es ist schon paradox, wenn hierzulande (fast) alles dafür getan wird, die Gesellschaft zu mehr als 1,4 Kindern zu bewegen, vom Elterngeld über den Ausbau von Krippenplätzen, wenn anderswo in der Welt bereits den Eltern zweiter Kinder heftige Sanktionen drohen, im schlimmsten Fall sogar Sterilisation. Die eigenen Nachkommen haben in China zu jeder Zeit die zentrale Rolle im Leben einer Familie inne gehabt. Daran hat auch die Ein-Kind-Politik nichts geändert. Eltern bringen die größten Opfer für ihr meist einziges Kind. So teilt sich manch eine Familie auf zwei Wohnorte auf, nur um dem Kind einen kürzeren Schulweg zu bieten.
Ich persönlich betrachte die in Deutschland meines Erachtens abnehmende Bereitschaft seine eigenen Interessen hinter die der Familienplanung zu stellen (das gilt natürlich für Frauen wie für Männer) mit größter Sorge. Es ist die Hingabe der Eltern, die ich im Kindergarten selbst erleben durfte, die ich hierzulande so vermisse. Manchmal, so scheint es mir, verkommen Kinder made in Germany zum Lifestyle-Symbol und Alleinerziehung wird zu einer politischen Einstellung. Moderne chinesische Eltern würden ihre eigenen Bedürfnisse nie vor die ihrer Kinder stellen.
Die beste Küche der Welt
… ist die chinesische (Die chinesische Küche n”™existe pas ”“ es gibt 8 Regionalküchen). Davon ist zumindest jeder Chinese hundertprozentig überzeugt. Fakt ist jedenfalls, dass sie eine der vielseitigsten der ganzen Welt ist. Jahrhundertelange Armut hat dazu geführt, dass die Menschen besonders Tiere weitaus besser verwerten als wir es tun. Der Anblick von Entenköpfen oder Hühnerfüßen mag für die meisten Europäer kein schöner sein aber bei nüchterner Betrachtung ist das nicht mehr als unbegründete Dekadenz. Gekocht wird immer frisch. Wer einmal daran denkt, was wir alles aus Kühlschrank und Tiefkühler konsumieren, merkt schnell, was nur frisch wirklich bedeutet.
Gegessen wird immer am runden Tisch mit einer drehbaren Glasplatte in der Mitte. Bestellt wird grundsätzlich alles: Eine Vielfalt an Gemüsegerichten, Fisch und Fleisch gehören zu jeder ausgedehnten Mahlzeit. Der Gastgeber entscheidet und wägt nach chinesischer Tradition ein optimales Gleichgewicht der verschieden Speisen. Anschließend werden immer mehr Teller aufgetischt, von denen sich jeder so viel nimmt wie er möchte. So bald der erste Teller steht geht es los. Es wird so viel aufgetischt, dass alle drei Mal sattwerden könnten. Dann wird Bier in Massen getrunken, denn Prost heißt å¹²æ¯ sprich gÄnbÄ“i und bedeutet wörtlich trockenes Glas. Leider schrecken Chinesen auch nicht davor zurück das mit teurem Wein, der auch schon mal mit Cola gemischt wird, zu tun; aber da drücke ich ein Auge zu.
Man is(s)t nie alleine
Es wird gekleckert, geschlürft, geschmatzt und sich laut unterhalten. Wenn der Tisch nachher aussieht wie ein Schlachtfeld muss es jedem geschmeckt haben. Anschließend zahlt der Gastgeber für alle ”“ die Rechnung zu teilen käme niemals in Frage. Zurück in Europa sitze ich dann im Restaurant vor meiner Karte, muss mich für genau ein überteures Gericht entscheiden, obwohl ich mit mindestens 4 liebäugle, und dabei peinlich genau darauf achten nur ja keine Geräusche zu erzeugen. Wer soll da nicht wehmütig werden?
Das leibliche Wohl ist eine der wichtigsten Dinge für Chinesen. Man nutzt jede Gelegenheit in möglichst großer Runde gemeinsam essen zu gehen. Sicher gibt es auch teure Restaurants, aber im Allgemeinen ist essen gehen sehr, sehr günstig ”“ auch für Chinesen ”“ und macht oft kaum einen Unterschied zur selbständigen Zubereitung. Für Ausländer wie mich war es völlig normal für jede Mahlzeit in ein Restaurant zu gehen. Straßenverkäufer bereiten innerhalb von Sekunden! die leckersten Snacks zu, an denen man sich für ein paar dutzend Cent sattessen kann. Â Wenn ich eins vermisse, dann sind es die chinesischen Küchen.
Das Streben nach Bildung
In meiner Zeit als Englischlehrer habe ich einen Einblick in die Schulen Chinas erhalten können und war immer wieder erstaunt. Die neue Generation Chinas ist meiner Meinung nach vor allem viererlei: materialistisch, (vor allem sexuell) unreif, jedoch hoch motiviert und vor allem top ausgebildet. Bei dem unglaublichen Lernpensum, das ein chinesischer Schüler zu bewältigen hat bleibt kaum Zeit für die Entfaltung einer Persönlichkeit. Aber auch daran ”“ wie an allen gesellschaftlichen Baustellen ”“ wird gearbeitet. Derweil haben chinesische Schüler uns bald auch in Geisteswissenschaften überholt ”“ in Mathe haben sie das schon lange.
Während hierzulande der Werte- und Bildungszerfall weiter vor sich hin gärt, weiß jeder chinesische Schüler bestens über die eigene Kultur, Geschichte und Sprache Bescheid. Geographische und politische Kenntnisse im In- und Ausland sind keine Frage der Schicht, sondern vielmehr natürliches Produkt eines gemeinsamen Wetteiferns um Fortschritt und das sich daraus ergebene Interesse an der Welt und ihren Zusammenhängen. Ein entscheidender Faktor für Bildung, den ich besonders in Nordamerika immer vermisst habe. Es geht sogar soweit, dass neulich ein angesehener Pekinger Bildungsforscher vorschlug in China die Lehre von Latein und Altgriechisch einzuführen ”“ wenn man den Westen überholen wolle, müsse man ihn auch verstehen. Wenn das kein beneidenswerter Eifer ist…
Hilfsbereitschaft & Offenheit
Besonders als Tourist in nicht allzu frequentierten Reisezielen bekommt man sie immer wieder zu spüren: Die Hilfsbereitschaft und Kontaktfreude der Chinesen, die die unsere um ein vielfaches übersteigt. Als Ausländer wird man oft geradezu hofiert, was aber nie falsch oder unterordnend, sondern, soweit ich es beurteilen kann, immer aus tiefstem Herzen nett gemeint ist. Ohne Umschweife hilft man mir im Zug einen Platz zu finden, fragt mich, wohin es gehen soll, woher ich komme und ob ich etwas vom selbstverständlich mitgebrachten Essen abhaben möchte. Ich verneine höflich ein- oder zweimal bevor ich dann doch ein paar getrocknete Sonnenblumenkerne nehme, die es in Fließbandgeschwindigkeit mit den Zähnen aufzuknacken gilt.
Auch sonst ist man sich für die praktischen Dinge im Leben noch nicht zu schade. Man redet lautstark quer durch den Waggon, man teilt Essen, schläft auch mal mit dem Kopf auf dem Tisch ”“ warum auch nicht? Wer in einem ICE von Hamburg nach Berlin nach 5 Minuten seine nach Frikadellen riechende Tupper-Dose rausholt, der anonymen Person gegenüber anbietet und dann vielleicht noch spontan ein Volkslied anstimmt mit der Hoffnung der halbe Waggon fände Spaß daran, der lebt wohl im falschen Land. Ich habe oft das Gefühl, dass hier allein das Mitbringen von mehr als dem obligatorischem Starbucks-Kaffee und sofortiges Rumfuchteln mit dem neusten iPhone schon nicht vorhandenen Lifestyle bedeutet. Ist es denn wirklich so uncool mal den Sitznachbarn zu fragen, wohin es geht?
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Von der Kunst, den Tag mal mit einem Lächeln zu beginnen, können wir aus dem Reich der Mitte noch vieles mitnehmen.
Die Probleme in und mit China sind mir wohl bewusst, auch Menschenrechtsverletzungen. Jedem Vorwurf von Euphemismus möchte ich entgegentreten und betonen, dass es hier darum geht, was wir von China lernen können.
Kritisiert wird schon oft genug ”“ auch zu Recht. Dennoch glaube ich, dass auch unsere Gesellschaft nicht vollkommen ist und manchmal einen Hauch vom Glauben daran, das perfekte System gefunden zu haben, ablegen sollte, um sich den alternativen Lebensformen anderer Gesellschaften öffnen zu können.
In puncto Wertschätzung der Gemeinschaft, Schaffens- und Bildungseifer, vor allem aber bei der Grundeinstellung, jeden Tag mit einem Lächeln zu beginnen, kann uns auch das Reich der Mitte noch als Vorbild dienen.