Geheimnisse des Besserwerdens – Deliberate Practice in der Praxis

In unserem letzten Artikel „Wie Du so gut in einer Sache wirst, dass Du zu den Besten gehörst“ haben wir Dir genau erklärt, worauf es ankommt, wenn Du vom Amateur zum Experten aufsteigen willst. Der Schlüssel: Deliberate Practice (intensives und bewusstes Üben).

Doch was sich in so einem Artikel gut liest, scheitert oft in der Praxis, weil wir nicht wissen, wie genau wir Deliberate Practice anwenden sollen. Deshalb wollen wir Dir jetzt zeigen, welche Hürden Deliberate Practice im Weg stehen und wie Du mit Deliberate Practice Deine Fähigkeiten in kurzer Zeit enorm ausbauen kannst. Außerdem lernst Du eine Drei-Schritt-Methode, mit der Dir das intensive Üben leichter fallen wird.

Die Gefahr der drei Lernphasen

Die amerikanischen Psychologen Fitts und Posner haben in den 1960er Jahren ein Dreiphasenmodell entwickelt, das erklärt, wie wir eine neue Fähigkeit lernen. Zuerst spielt sich alles in unserem Kopf ab. Wir versuchen, die Bewegungen oder die Methode zu verstehen und sie anschließend umzusetzen. Du lernst zum Beispiel, wie Du Dich bei einer Sportart richtig hinstellen musst oder wie Du beim Autofahren Kupplung und Gaspedal so abstimmst, dass sich das Auto in Bewegung setzt.

Lernphasen

Diese sogenannte kognitive Phase ist sehr anstrengend für uns und kommt Deliberate Practice schon sehr nahe. Denn wir konzentrieren uns ganz bewusst auf jeden Schritt und haben in der Regel einen Lehrer oder Trainer, der uns zeigt, was wir genau tun müssen.

Nachdem wir die ersten Grundlagen verstanden haben (beim Autofahren zum Beispiel anfahren, Gang wechseln, lenken etc.), erreichen wir die nächste Phase des Lernmodells. Wenn wir voll bei der Sache sind, gelingt es uns, das Gelernte immer wieder umzusetzen. Wir entdecken kleine Fehler und korrigieren sie. Außerdem wird uns das große Ganze klarer. Während wir in der ersten Phase noch in Einzelschritten gedacht haben, verbinden wir jetzt alle Elemente zu einer Einheit (assoziative Phase).

Nach etwa 50 Stunden Training setzt die letzte Phase ein, die sogenannte autonome Phase. Die Umsetzung erfolgt fast automatisch. Wir müssen uns nicht mehr so stark konzentrieren und benötigen weniger Aufmerksamkeit beim Üben, weil der Autopilot in unserem Gehirn die Kontrolle übernimmt. Wir haben die Bewegung so oft geübt, dass wir sie ohne Schwierigkeit wiederholen können.

Sobald wir die autonome Phase erreichen, stagnieren wir in unserer Entwicklung sehr häufig. Wir werden nicht mehr besser. Warum? Weil wir das sogenannte OK-Plateau erreicht haben!

Das OK-Plateau

Die ersten 50 Stunden Training waren interessant und haben viel Spaß gemacht. Wir konnten schnelle Fortschritte erkennen und haben ein Level erreicht, das „gut genug“ zu sein scheint: Wir kommen einigermaßen sicher durch den Straßenverkehr, schlagen beim Tennis nicht mehr am Ball vorbei, können die Geschichte für unseren Roman richtig aufbauen oder in einer Programmiersprache eine simple Software programmieren.

Doch solange wir in diesem „gut genug“-Zustand verharren, sind unsere Fortschritte minimal. Im Unterschied zu der ersten, kognitiven Phase verlassen wir uns immer mehr auf das, was wir schon können. Die Automatismen, die wir in den ersten 50 Stunden entwickelt haben, übernehmen den Rest. Du bleibst für immer auf dem OK-Plateau egal wie viel Du „trainierst“.

Sieh Dir mal die Lernkurve für das OK-Plateau an:

OK Plateau

Am Anfang machen wir noch Fortschritte, doch die Kurve flacht immer weiter ab. Das liegt daran, dass die Herausforderungen fehlen, die Dich besser machen. Das ist der entscheidende Unterschied zu Deliberate Practice. Wenn Du mit Deliberate Practice trainierst, verlässt Du Dich nicht auf die Fähigkeiten, die Du Dir in den ersten 50 Stunden angeeignet hast. Stattdessen durchbrichst Du die Automatismen, um das Gelernte weiterzuentwickeln.

Die drei Prinzipien von Deliberate Practice

Wir haben Dir eben den wichtigsten Unterschied zwischen normalem Üben und Deliberate Practice erklärt: Du musst das Einschalten des Autopiloten verhindern und Dich ständig neu herausfordern. Doch das klingt viel leichter als es ist.

Was kannst Du konkret tun, damit Du immer wieder in die kognitive Phase zurückkehrst und weiter lernst?

Wir haben drei Tipps für Dich:

1. Klare Ziele setzen

Hand aufs Herz. Wie oft hast Du schon ohne einen konkreten Plan Dein Musikinstrument in die Hand genommen, Dich an den Schreibtisch zum Lernen gesetzt oder beim Sport auf den Platz gestellt und einfach angefangen?

Wenn wir die autonome Phase erreicht haben, ist es unser natürlicher Instinkt, nur noch „darauf los zu spielen“. Du wirst nur das tun, was Du schon kannst. Um wirklich besser zu werden, müssen wir aber ganz bewusst die Kontrolle über das übernehmen, was wir üben. Deliberate Practice ist nie eine mechanische Wiederholung, sondern sollte sich jedes Mal wie neu anfühlen. Und das musst Du vorher mit klaren Zielen planen!

Schreib Dir genau auf, was Du lernen willst und entwickle einen Lernplan (lass Dich von dem Wort „Plan“ nicht abschrecken: es geht hierbei nur darum aufzuschreiben, was Du in den nächsten Trainingsstunden üben willst). Das ist nicht schwer: Wenn Du die autonome Phase erreicht hast, weißt Du schon, worauf es ankommt, um besser zu werden. Nimm Dir für jede Übungsstunde ein Element vor und schreib Dir auf, wann und wie Du es üben wirst.

2. Verlangsamen und bewusster wahrnehmen

Wir wollen verhindern, dass sich der Autopilot einschaltet. Dazu müssen wir die einzelnen Schritte der Bewegung oder Methode wieder bewusster wahrnehmen – genau wie es in den ersten Stunden des Lernens der Fall war. Ein paar Beispiele:

  • Mach eine Bewegung als Trockenübung und verlangsame sie so stark wie möglich, um auch kleine Fehler zu erkennen.
  • Schreib Deinen Roman und erkläre Dir selbst bei jedem Satz, warum Du ihn schreibst.
  • Überlege Dir, ob Du Deine programmierte Software auch mit weniger Code effizienter gestalten kannst.

Lass Hilfsmittel weg (gute Objektive beim Fotografieren, farbige Stifte beim Erstellen eines Bilds oder die Noten beim Musizieren) oder bau Dir bewusst Hindernisse ein (zusätzliche Gewichte an den Beinen beim Sport, die alleinige Verwendung von Adjektiven mit dem Anfangsbuchstaben a beim Sprechen einer neuen Sprache oder der Aufschlag beim Tennis mit verbundenen Augen).

Überlege Dir immer wieder, wie Du Dich mit kleinen Veränderungen neu herausfordern kannst. Der Schlüssel ist, Deinem Gehirn neue Reize zu bieten. Immer wenn Du denkst „Kenn ich schon“, setzt der Autopilot ein und Du wirst nicht besser.

3. Volle Konzentration und maximal eine Stunde

Echtes Deliberate Practice ist sehr anstrengend und erfordert Deine volle Konzentration. Vielleicht erinnerst Du Dich noch, worin sich die besten Violinisten bei der Studie von Anders Ericsson von den anderen Geigenspielern unterschieden haben? Sie haben durchschnittlich wesentlich mehr geschlafen. Das ist ein Zeichen, dass sie sehr intensiv geübt haben und sich von der Erschöpfung gut erholen mussten.

So sollte es Dir auch gehen. Wenn Du mehrere Stunden am Stück trainieren kannst, hast Du nicht die Intensität erreicht, die für Deliberate Practice erforderlich ist. Auch die besten Violinisten haben nur in sehr kurzen Zeitblöcken musiziert und so am Tag nur wenige Stunden (wenn überhaupt) wirklich mit voller Konzentration geübt.

Wenn Du Dir Deine Zeit frei einteilen kannst, ist es am besten, wenn Du morgens zwei Mal eine Stunde übst und auch nachmittags noch zwei einstündige Übungseinheiten einplanst. Oft ist das nicht so einfach, weil Du viele andere Verpflichtungen hast. Dann versuch zumindest eine Stunde täglich zu finden, zu der Du mit Deliberate Practice trainierst. Am wichtigsten ist dabei, dass Du nicht schon vollkommen erschöpft bist und noch genug Reserven für eine intensive Einheit Deliberate Practice hast. Wenn Du es also ernst meinst, solltest Du Deine Übungseinheit auf den Morgen legen.

So ein Aufwand?

Deliberate Practice ist anstrengend und herausfordernd. Das gilt nicht nur für das Üben selbst, sondern auch für die Entscheidung, wie und was Du üben solltest. Es ist deshalb vollkommen normal, wenn Du unsicher bist, wie Du das „Deliberate Practice“-Konzept für Dein Projekt in die Praxis umsetzen kannst.

Mit einem richtig guten Trainer oder Mentor wirst Du die größten Fortschritte machen. Und wir empfehlen Dir auch, diesen Schritt zu gehen und in Dich selbst zu investieren. So erhältst Du ehrliches Feedback und wirst immer wieder durch neue Übungen herausgefordert.

Was aber, wenn Du es ohne fremde Hilfe versuchen willst? Es gibt eine schöne Geschichte von Benjamin Franklin, der bis heute – neben vielen anderen Fähigkeiten – als ein hervorragender Schriftsteller gilt. Was hat er getan, um sich als Autor zu profilieren?

Benjamin Franklin hat Artikel fremder Autoren ausgewählt, die erheblich besser waren als seine eigenen schriftstellerischen Bemühungen. Anschließend hat er die Texte intensiv analysiert und sich zu der Bedeutung jedes einzelnen Satzes kurz Notizen gemacht. Ein paar Tage später hat er versucht, nur mit Hilfe seiner Notizen den Artikel mit eigenen Worten selbst zu schreiben. Als nächstes hat Franklin das Original und seine Version des Artikels nebeneinander gelegt und Fehler korrigiert.

Dabei hat Franklin festgestellt, dass sein Vokabular im Vergleich zu den professionellen Autoren zu sehr beschränkt ist. Weil er wusste, dass besonders das Schreiben in Gedichtform eine große Ausdrucksvielfalt erfordert, hat er deshalb als nächstes seine Artikel in Gedichtform umgeschrieben.

Wieder ein paar Tage später hat er sich diesen Text vorgenommen und ihn wieder in Prosa umgeschrieben. Dabei hat er versucht, die Wortwahl stetig zu verbessern und von den Wortschöpfungen der Gedichtform zu profitieren.

Diese Prozedur hat er dann mit dem nächsten Artikel wiederholt und ist so Schritt für Schritt immer besser geworden.

Wenn Du jetzt denkst „Was ist das denn für ein Aufwand?“, hast Du ein Gefühl dafür bekommen, was Deliberate Practice ausmacht. Du gehst dorthin, wo sich andere nicht hintrauen, weil es zu anstrengend ist. Du machst die extra Schritte und gibst Dich nicht mit dem OK-Plateau zufrieden.

Von Experten lernen – Die Drei-Schritt-Methode

Mach Dir dabei klar, dass Benjamin Franklin seine Fähigkeiten als Autor nicht verbessert hat, indem er mehr eigene Artikel geschrieben hat. Stattdessen hat er erst einmal versucht, von den Besten zu lernen!

Seine Vorgehensweise lässt sich in drei Schritte unterteilen:

  1. Analysiere ein Meisterwerk im Detail: Nimm Dir zum Beispiel einen hervorragend geschriebenen Artikel, werte eine Schachpartie zwischen zwei Großmeistern aus oder sieh Dir in Zeitlupe an, wie ein Profisportler eine Bewegung ausführt.
  2. Finde Deinen eigenen Weg: Versuche von den Experten zu lernen, indem Du nach der ersten Analyse einen eigenen Weg entwickelst. Es geht dabei nicht darum, andere zu kopieren, sondern mit ihrer Hilfe Deine eigene Lösung herauszuarbeiten.
  3. Vergleich Dich mit dem Experten: Erst jetzt – nachdem Du Deinen eigenen Ansatz von A bis Z ausformuliert oder den neuen Bewegungsablauf bestmöglich umzusetzen versucht hast – nimmst Du wieder das „Meisterwerk“ zur Hand und vergleichst, was Du noch verbessern kannst.

Deliberate Practice

Es ist sehr wichtig, dass Du erst alleine versuchst, eine Lösung zu finden. Nur so kannst Du in Schritt 3 Deine Fehler korrigieren. Wenn Du sofort auf die Expertenlösung zurückgreifst, sobald Du nicht weiterweißt, geht der Lerneffekt verloren!

Spaß entsteht durch Deine Fortschritte

Wir haben Dir anhand einiger Beispiele gezeigt, wie Du Deliberate Practice für Dein Vorhaben umsetzen kannst und so über das OK-Plateau hinauswachsen kannst.

Du solltest Dir allerdings eins klar machen: Deliberate Practice macht im Moment des Übens nicht immer Spaß, weil Du alles von Dir abverlangst. Und es kann langweilig oder sogar frustrierend sein, wenn Du immer weiter an den Details feilst. Denk daran, wie intensiv Benjamin Franklin an seinem Schreibstil gearbeitet hat, ohne dass er am Ende ein Resultat – also einen wirklich eigenen Artikel – vorzeigen konnte.

Der Spaß kommt allerdings, wenn Du nach einigen intensiven Übungseinheiten bemerkst, dass Du wieder ein Stückchen besser geworden bist. Außerdem solltest Du lernen, Freude daran zu haben, mit viel Einsatz an der Verbesserung Deiner Fähigkeiten gearbeitet zu haben (das ist das so genannte growth mindest oder dynamische Selbstbild).

Wenn Du wirklich richtig gut in einer Sachen werden willst, weißt Du jetzt, wie Du es anstellen kannst. Du wirst nicht über Nacht zum Experten, aber wenn Du mit viel Deliberate Practice trainierst, wirst Du sehr schnell besser werden – und wahrscheinlich nicht die so häufig genannten 10.000 Stunden benötigen. Trau Dich und be your best!

Mehr von BeYourBest

Mehr Tipps rund um das Thema „Erfolg im Leben“? Wir halten Dich gern auf dem Laufenden über unsere neuesten Artikel, Workshops und Online-Kurse – 100% unverbindlich, 100% kostenlos. Melde Dich jetzt zu unserem Newsletter an und wir verraten Dir, worauf es beim Zielesetzen wirklich ankommt und wie Du bis zum Schluss durchhältst.

Schreibe einen Kommentar